Meine Bilder und Objekte sind manchmal ganz intime Umsetzungen emotionaler Knoten – also etwas Eingesperrtes, das sich in den Faltungen des Gedächtnisses festgesetzt hat und nicht anders rauskommt, als durch die zähen, pastigen Ströme der Ölfarbe und ihrer Überlagerungen oder die Einbindung zufällig gefundener Objekte in eine potentielle Narration. Man kommt mit Worten dort nicht hin, oder die Malerei und die Objekte fangen dort an, wo die Worte ihre Kraft verlieren. Meist sind sie Ergebnisse meines Umherstreifens durch die Museen und Flohmärkte der Welt. Seit langem ziehen mich die vergessen Gesichter der unglaublich großartigen Porträtkunst der Epochen von der Renaissance bis in das ausgehende 18. Jahrhundert an, und wenn ich irgendwie kann, dann sammle ich diese Bilder um eine längere Auseinandersetzung mit ihnen zu ermöglichen. Es beginnt dann eine Zwiesprache, die irgendwann zu eigenen Bildern werden muss. Was passiert? Ein Bild springt mich sozusagen von hinten an, bei fast geschlossenen Augen. Wenn soetwas passiert, mache ich Fotos, auch von Details, die dann später, im Atelier, die visuelle Erinnerung an solche Momente stimulieren können. Oder das Bild selbst gelangt durch Glück oder Schicksal, wer soll das wissen, höchstpersönlich in mein Atelier. Die Bilder sind dann das Ergebnis von beidem, der Erinnerung an das gesehene Bild und der eigenen Wahrnehmung. Sie liegen, sinnbildlich gesprochen, auf halbem Weg dazwischen.
In meinen Bildern verzichte ich ganz bewusst auf eine völlige Ablösung in die Abstraktion. Mich interessiert das Zusammenspiel zwischen tausendfach überprüften Konstruktionen des Auges oder Gehöres, die wir Wirklichkeit nennen, und den abschweifenden, sozusagen nicht mehr genau passenden Bildkonstruktionen. Das fordert mich ständig heraus und setzt mich unter Strom. Ich nehme diese Übergänge Ernst und sehe diese beiden, mit unserem klinisch orientierten Verstand immer gerne als völlig voneinander getrennt existierenden Bereiche von faktischer und unfaktischer (oder vorläufiger) Realität als fließend ineinander übergehendes Feld.
Es muss kein Geheimnis bleiben, dass mich die frühen Gesichter Frank Auerbachs seit den 1980er Jahren geradezu verfolgen, aber auch die Entdeckung Eugène Leroys mit seinen über Jahrzehnte gewachsenen Farbassemblagen und die düsteren Gesichtsschlünde Leon Kossoffs gaben mir den notwendigen Antrieb, die Betrachtung der Kunstwerke als Kunstschriftsteller an die Schwelle der Aktion zu bringen. Das neue Modell der Wirklichkeit, das die Quantenphysik seit den 1940er Jahren theoretisch (und seit den erfolgreichen experimentellen Bestätigungen des letzten Jahrzehnts) nunmehr unleugbar nahelegt, sieht in der ausgefalteten Realität unendlich viele verborgene Einfaltungen, d.h. der expliziten Welt, mit der unser Auge sich förmlich zubaut, sind unendlich viele Vielleichts implizit, eine Erkenntnis, die bei diesen Malern förmlich mit Augen zu greifen ist.
Der Physiker David Bohm veranschaulichte die eingefaltete Ordnung experimentell-metaphorisch mit einem sehr malerisch gedachten Tropfen, der in ein Gefäß gefüllt wird, in dem sich eine andere Flüssigkeit befindet (Glycerin) und ein Zylinder. Werde nun dieser Zylinder gedreht, ziehe sich der Faden langsam zu einem immer feineren Band auseinander, bis er sich ganz auflöst; da er nun aber nicht verschwunden ist, bleibt er „implizit“ vorhanden und kann bei einer Gegendrehung des Zylinders wieder „sichtbar“ gemacht werden. Angeregt von diesen neuen Sichtweisen in der Mikrophysik entwickelten parallel dazu Künstler der 1940er Jahre, wie Wolfgang Paalen, Mark Rothko oder Jackson Pollock, ein Konzept des Bildraums, das auf der Idee des Unsichtbaren als ein „Noch-nicht-Sichtbares“ oder „Mögliches“ beruhten und alte metaphysische Modelle des Absoluten, wie sie noch bei Kandinsky oder Mondrian aktiv waren, ersetzten. Was wenigen bewusst ist: diesen Ansätzen gingen häufig intensive Auseinandersetzungen mit dem Bildgegenstand voraus – Pollock begann sogar fast alle seiner Drippings mit einem gegenständlichen Motiv – im Unterschied zum Kubismus, der ja ebenfalls dezidiert am Sujet festhielt, wurde hier der Betrachter selbst zum Bildgegenstand erklärt (z.B. durch Einforderung bestimmter Betrachtungsabstände im Einklang mit den enormen Formatgrößen). Fortgeführt wurden die Ansätze Paalens und Bohms zum Beispiel durch die philosophischen Überlegungen des kürzlich verstorbenen englisch-indischen Gelehrten Roy Bhaskars (Oxfort/London/Neu Delhi). Mit dem von ihm begründeten Kritischen Realismus beschrieb er genau die Konsequenzen dieser neuen, gleichsam doppelbödigen Natur der Wirklichkeitswahrnehmung: „Wirklichkeiten, implizit, eingefaltet oder zusammen gegenwärtig innerhalb einer Sache, erfordern zwei Weisen der Wahrnehmung. Der Lehrsatz des impliziten/expliziten Umgebungsraumes bindet ausgeprägte (oder besondere) Wahrnehmungsfähigkeiten in den Prozess der Wirklichkeitsfindung mit ein und erlaubt den Zugang sowohl zu weiteren Dimensionen der Realität (inkl. ihrer weltgeschichtlichen und tendentiell gegenwärtigen Abläufe) als auch zu der Entfaltung größerer Bereiche des Seins, die innerhalb dieser Sache eingefaltet sind (inkl. ihrer karmischen Verbindungen mit anderen Sachen). Das Phänomen der Co-Präsenz eröffnet deshalb neue und erweiterte Weisen des Sehens, gemäß unseres erweiterten neuen Verständnisses der Dimensionen, Ebenen oder Weisen des Seins (und Zusammen-/Ineinanderwirkens einer Sache). Auf diese Weise können wir mehr Dinge und mehr von einer Sache, in einer Sache oder einem Ereignis sehen, die jeweils zudem als konkret universell anzusehen sind.“ (Roy Bhaskar, Reflections on metaReality: Transcendance, Emancipation and Everyday Life, A Philosophy For the Present (New Delhi/London 2002), S. 235 (aus dem Englischen von Andreas Neufert)
Die Arbeit an den Wahrnehmungsgrenzen, den Kippstellen des Sichtbaren, den Bruchstellen der Realität ist die wesentliche Herausforderung für meine Arbeit als Maler. Und welches Sujet eignet sich dafür kongenialer, als ein aus der Tiefe der Zeit auftauchendes Gesicht, das von einem der großen Portraitisten in einem unwiederbringlich verlorenen Augenblick äußerster Intensität aus dem Fluss der Zeit enthoben und für uns festgehalten wurde.